Berlin, 12. Oktober 2022. Wenn Patienten und Ärzte auf Augenhöhe miteinander sprechen, dann ist das eine der Voraussetzungen, um hinter einer Therapieentscheidung stehen zu können. Was eigentlich selbstverständlich klingt ist es dennoch nicht immer: deshalb wurde das Modell ins Englische übersetzt und heißt nun Shared decision making. Klingt gut und modern, doch was bedeutet das eigentlich im Krankheitsfall und im Zusammenhang mit Homöopathie? Das YouTube-Video Wie spreche ich mit meinem Arzt auf Augenhöhe? der Stiftung Gesundheitswissen, das unten auf dieser Seite steht, zeigt, was damit gemeint ist. 

Neben der Expertise von Ärzten ist der Begriff ICH-Experte von zentraler Bedeutung: Wir wissen – oder ahnen! –  oft mehr über uns, als Ärzte meinen. Deshalb ist es zunächst wichtig, dass wir über uns und unsere Beschwerden sprechen können und dass uns auch jemand zuhört! Das war schon Hahnemann klar, als er beschrieb, wie eine (homöopathische) Anamnese vonstatten geht: am Anfang steht der Spontanbericht. Und die Aufgabe des Homöopathen ist zunächst Zuhören!

Erst dann folgt der gelenkte Bericht: der Arzt versucht, das Gehörte zu verstehen und hinterfragt, was ihm (noch) nicht ausreichend klar ist. Erst dann kann er das Individuelle des Patienten mit seinem objektiven Wissen und seiner Erfahrung abgleichen, eine medizinisch fundierte Diagnose stellen und an weitere diagnostische Schritte denken.

Es kommt nicht selten vor, dass Ärzte schon nach dem zweiten oder dritten Satz ihres Patienten „wissen“ (oder besser: zu wissen meinen!), worum es im konkreten Fall geht und was als Nächstes zu tun sei. Das hat zwar den Vorteil der Zeitersparnis, könnte aber eines Tages auch von Computern und Algorithmen erledigt werden. Auf jeden Fall hat es den Nachteil, dass Patienten oft vorschnell in Schubladen gesteckt werden, aus der sie später nur mit Mühe wieder herauskommen.

Solche Prozesse sind natürlich dem Zeit- und Kostendruck im Gesundheitssystem geschuldet, aber das macht sie nicht plausibler und schon gar nicht menschlich, im Gegenteil! Der Anspruch auf Selbstwirksamkeit bleibt ebenso auf der Strecke wie Selbstbestimmung und Würde des Kranken. Der teilentmündigte Patient verliert womöglich seine Bereitschaft, empfohlene Therapien mit zu tragen, mit teilweise fatalen Folgen. Vor diesem Hintergrund wirkt der Appell zu Shared decision making wie das Überpinseln einer maroden Mauer mit einer schönen, aber wenig haltbaren Farbe: sieht schön aus, aber übertüncht nur, was eigentlich gründlich saniert gehört.

Um Missverständnisse zu vermeiden: es geht nicht um Bashing wertvoller Errungenschaften der modernen Medizin! Im Gegensatz zu den Gegnern der Homöopathie stehen homöopathisch tätige Ärzte immer auf zwei Beinen: sie sind wissenschaftlich ausgebildet und verfügen über ihre spezielle Zusatzqualifikation. Homöopathen praktizieren also insgeheim schon lange Shared decision making, indem sie die konventionelle Medizin immer in gedanklichen Austausch bringen mit dem, was sie homöopathisch können und erfahren haben. Davon merken Patienten zwar nichts, aber sie ahnen, dass sie bei Ärzten mit Zusatzqualifikation Homöopathie womöglich besser aufgehoben sind, weil sie eine Behandlungsoption mehr erwarten können.

Therapieentscheidungen auf Augenhöhe sind in homöopathisch ausgerichteten Arztpraxen üblich: einerseits durch eine Anamnese, die aktuelle Symptomatik, Konstitution und psychosoziale Hintergründe gleichermaßen wahr- und ernst nimmt. Andererseits dadurch, dass die Entscheidung für oder gegen Homöopathie immer sorgfältig abgewogen wird gegen das, was im konkreten Fall die konventionelle Medizin anzubieten hat.

Im Zusammenhang mit Homöopathie entlarvt sich Shared decision making leider selbst als schöner Schein: wenn – politisch offenkundig gewünscht und medial unterstützt – die homöopathische Zusatzqualifikation von Ärzten aus ärztlichen Weiterbildungsordnungen eliminiert und die Apothekenpflicht homöopathischer Arzneien und ihre Erstattung durch Krankenkassen in Frage gestellt wird, dann gibt es für Patienten früher oder später gar keine Wahlmöglichkeit mehr, über die im Patient-Arzt-Gespräch gesprochen und abgewogen werden könnte.

Nimmt man also den wohlklingenden und modern anmutenden Slogan ernst, dann ergeben sich hieraus ganz konkrete Konsequenzen:

  • Patienten sollten ihre „ICH-Expertise“ selbstbewusst und konsequent vertreten und verteidigen.
  • Sie sollten sich laut und deutlich zu Wort melden, wenn ihre Wahlmöglichkeiten beschnitten werden.
  • Sie sollten ihre Haus- und Fachärzte freundlich, aber bestimmt dazu auffordern, sich ernsthaft mit Homöopathie zu beschäftigen.
  • Sie sollten sich nicht scheuen, auch in der Öffentlichkeit über Homöopathie zu sprechen und deren Anwendung in der Hand qualifizierter Ärzte und Heilpraktiker mit Nachdruck zu fordern.
  • Sie sollten ihre eigenen Erfahrungen als authentische Zeugnisse präsentieren und dabei ihre eigene Lobby, den BPH stärken.

Die konventionelle Medizin ist enorm wertvoll. Homöopathie ist es aber auch. Und eine menschliche Medizin basiert auf wohlabgewogenen und gemeinsamen Entscheidungsprozessen. Nicht die Interessen von Ideologen oder Medienstrategen stehen im Zentrum der Medizin, sondern der kranke Mensch als mündiger Partner im Therapieprozess.

 

Autor: Dr. med. Ulf Riker, Internist / Homöopathie