Eine Kolumne von Dr. med. Ulf Riker, Internist aus München:
Dreißig Jahre ist es her, aber ich erinnere mich sehr genau! Meine Assistenzarzt-Karriere begann in einem Kreiskrankenhaus, in der Anästhesie. Patienten auf Knopfdruck in Narkose zu versetzen und nach Ende einer Operation wieder aufwachen zu lassen war lehrreich, tat aber auch dem Ego des jungen Mediziners gut und kitzelte ab und zu einen kleinen ärztlichen Größenwahn wach. Immerhin hatte ich Macht über die Vitalfunktionen eines Menschen. Aber eigentlich wollte ich ja Internist werden. Diese Abteilung stand unter der Leitung eines sehr bodenständigen Chefarztes, der uns allen Ernstes beibrachte, wir sollten uns neben fachlicher Fortbildung auch im Zuhören üben. Oft habe der Patient recht mit dem, was er sage, und das sei wesentlicher Bestandteil einer Anamnese und damit Voraussetzung für die spätere Therapie.
Also folgte ich seinem Beispiel, setzte mich zum Patienten und hörte zu. Leider blieb mir oft verschlossen, was ich im Rahmen der weiteren Diagnostik mit dem Gehörten anfangen sollte. Laborbefunde und subjektives Befinden des Patienten, Röntgenbilder und Endoskopie-Ergebnisse ergaben kein klares Bild, Messbares und Unwägbares passten nicht zusammen und hin und wieder waren sogar alle erhobenen Befunde normal, der Patient aber brachte glaubwürdig seinen Leidensdruck zum Ausdruck. Was also tun? War der Patient ein Simulant oder war unser diagnostisches Instrumentarium unzureichend? Und welche Therapie konnte aus diesem Dilemma heraushelfen? Ich glaubte zu spüren, dass diese Verunsicherung auch bei meinem Chef vorhanden war, aber seine Erfahrung gab ihm die Möglichkeit, dennoch konkrete Therapieanweisungen zu geben.
Dunkle Hunde und Wölfe
Das nagende Gefühl, manchen Patienten nicht gerecht zu werden, führte eines Tage zu dem Entschluss, einen Teil meines Jahresurlaubes für eine Hospitation im Münchner Krankenhaus für Naturheilweisen zu verwenden. Ich wollte sehen, ob es jenseits des internistischen Tellerrandes diagnostische oder therapeutische Optionen gab, die mir weiterhelfen würden. Der Chefarzt war charismatisch und streng, es herrschte Krawattenpflicht – und es wurden auch Globuli verteilt. Von Homöopathie hatte ich schon gehört und wusste, dass da außer Zucker nichts drin war, also interessierte ich mich dafür nicht. Bis mich der Chef eines Tages zur Seite nahm und mir befahl, einen homöopathischen Selbstversuch unter Anleitung eines Assistenzarztes zu unternehmen.
Was sollte ich tun? Dem etwas älteren Kollegen gegenüber äußerte ich meinen Zweifel, ein längeres Gespräch mit ihm war nicht im Geringsten dazu angetan, meinen tiefsitzenden Zweifel zu beseitigen. Also nahm ich fünf kleine, weiße Zuckerkügelchen mit innerlichem Grinsen und äußerlichem Schulterzucken. Meine Erwartungshaltung lag im negativen Bereich, und es passierte tatsächlich zunächst nichts. Aber zwei Nächte später begannen heftige Träume, ich wurde von ganzen Rudeln dunkler Hunde oder Wölfe verfolgt, musste mich retten, während über mir brennende Flugzeuge abstürzten. Dann traten Schmerzen in allen möglichen Gelenken auf, verbunden mit fiebrigem Hitzegefühl und einer inneren Unruhe, die mich dazu zwang, mich ständig irgendwie zu bewegen. War das Rheuma? Aber warum gerade jetzt?
Zucker mit wirksamen Inhaltsstoffen
Es gab für die Alpträume genau so wenig eine Erklärung wie für die Gliederschmerzen. Ich schleppte mich also tagelang durch meine Hospitation, aber ich sprach auch mit niemand darüber. Erst als der Spuk gegen Ende der 2. Woche zurück ging, offenbarte ich meinem Assistenzarzt–Kollegen die Erlebnisse, weil mich der Verdacht beschlich, dass das vielleicht in irgendeinem Zusammenhang mit der „homöopathischen Pflichtübung“ stehen könnte. Freundlich und gleichzeitig ernst gab er mir die erste homöopathische Arzneimittellehre meines Lebens in die Hand und forderte mich auf, beim Arzneimittelbild von Tuberculinum im Kapitel „Geist / Gemüt“ die Träume und im Kapitel „Gliederschmerzen“ die entsprechenden Symptome nachzulesen. Ja, ich fand „Träume von schwarzen Hunden“, und, ja, auch die Gliederschmerzen samt ihren Modalitäten (z. B. der Besserung durch Bewegung) waren beschrieben.
Ich war wie vom Donner gerührt! Wie konnte das sein? Denn ich war mir ja sicher, dass ich lediglich Zucker ohne wirksame Inhaltsstoffe zu mir genommen hatte. Dieses Erlebnis ging mir lange nach, und ich kam zu dem Ergebnis, dass dies mit der Einnahme der Arznei zu tun haben musste. Mein bis dahin grund solides internistisches, ja durch und durch materialistisches Weltbild war erheblich erschüttert. Meine Neugier war geweckt, es gab also offenkundig etwas außerhalb des Tellerrandes der konventionellen Medizin, womit ich nicht gerechnet hatte. Ein halbes Jahr später besuchte ich meinen ersten Homöopathie-Kurs. Ohne es zu wollen, wurde ich vom Saulus zum Paulus, aber natürlich hat das nichts mit Glauben oder Autosuggestion zu tun, sondern mit genauer Beobachtung, Neugier, einem Mindestmaß an Unvoreingenommenheit und der Bereitschaft, sich auch wundern zu dürfen.
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