Dr. med. Heiner Frei ist Facharzt für Kinder– und Jugendmedizin in Laupen bei Bern (Schweiz). Er nutzt die sogenannte Polaritätsanalyse zur Verschreibung homöopathischer Arzneien. Sie wurde zunächst mit dem Ziel entwickelt, die Wirksamkeit von individuell verschriebenen homöopathischen Arzneien bei ADHS-Kindern zu zeigen. Das ungekürzte Interview lesen Sie im Buch „Die Pioniere der Homöopathie im 21. Jahrhundert“ von Heidi Brand & Anne Devillard.
Herr Dr. Frei, Sie führen eine stark frequentierte homöopathisch ausgerichtete Kinderarztpraxis in der Schweiz und sind für Ihre hohe Erfolgsquote bei der Behandlung von Kindern und Jugendlichen bekannt. Sie haben auf der Basis der Bönninghausen-Methode die Polaritätsanalyse entwickelt. Was hat Sie dazu geführt, sich eingehender mit dem Ansatz von Bönninghausen auseinanderzusetzen?
Bönninghausen behandelte sehr viele Patienten, weshalb ihm für die Mittelfindung nur wenig Zeit zur Verfügung stand. Als naher Freund von Hahnemann hat er mit dessen Einverständnis die Fallaufnahme gestrafft und damit die Homöopathie auch für eine stark frequentierte Grundversorgerpraxis tauglich gemacht.
In meiner Praxis war ich mit dem gleichen Problem konfrontiert wie er. In den ersten Jahren behandelten wir bald einmal über 50 Patienten am Tag, und es wurden ständig mehr, sodass eine Lösung gefunden werden musste.
Auch heute sind es immer noch etwa 40 Konsultationen am Tag, das heißt, dass für ein Kind nur etwa 15 bis 20 Minuten zur Verfügung stehen. In dieser Zeit muss eine Diagnose gestellt und ein Arzneimittel bestimmt werden. Scheinlösungen kommen nicht infrage, weil das nur zu zusätzlichen Konsultationen führen würde.
Die aktuellen Symptome sind die zuverlässigsten
Was machte die Bönninghausen-Methode für Sie so interessant?
Das Entscheidende bei Bönninghausen ist, dass er die homöopathische Mittelwahl ausschließlich auf die aktuell vorhandenen Patientensymptome abstützte. Interpretationen und Theorien spielen keine Rolle. Er gewichtete das Hauptsymptom am höchsten, dann kamen die Nebensymptome und schließlich die Gemütsveränderungen, die zur Differenzierung zwischen verschiedenen Mitteln verwendet wurden. Er hat damit die Hahnemannsche Fallaufname stark gestrafft. Eine übliche homöopathische Fallaufnahme braucht viel mehr Zeit, als wir in einer Grundversorgerpraxis zur Verfügung haben, was ein großes Problem ist. Bönninghausen hat es mit seinem Vorgehen gelöst.
Er war auch ein hervorragender klinischer Beobachter. In seinem „Therapeutischen Taschenbuch“ hat er eine Gradierung der Symptome geschaffen, die noch heute unübertroffen ist. Damit arbeitete er das heraus, was an einem Arzneimittel spezifisch und charakteristisch ist, was es von den anderen unterscheidet, und schuf dafür den Begriff des „Genius des Arzneimittels“.
Geniussymptome sind im Taschenbuch durch hohe Grade gekennzeichnet (Grad 3 bis 5), während weniger charakteristische Symptome tiefe Grade aufweisen (Grad 1 und 2). Auf Bönninghausens Symptomengradierung basiert die ganze Polaritätsanalyse, mit der wir berechnen können, welches Arzneimittel die Patientensymptomatik am spezifischsten abdeckt.
Die zentrale Bedeutung der polaren Symptome
Wie funktioniert die Polaritätsanalyse genau?
Die Polaritätsanalyse basiert auf der Analyse von polaren Symptomen, das heißt von Symptomen, die ein Gegenteil aufweisen, also Durst oder Durstlosigkeit, Kälte bessert oder verschlimmert, Verlangen nach frischer Luft oder Abneigung gegen frische Luft und so weiter. Es gibt nach Bönnighausen insgesamt etwa 160 polare Symptome, die von Bedeutung sind.
Ein Patient kann nur einen Pol eines polaren Symptoms aufweisen: Er ist zum Beispiel entweder durstig oder durstlos. Viele Arzneimittel weisen aber beide Pole auf, weil deren Symptomatik auf den Beobachtungen von mehreren Prüfern beruht. In der Regel haben aber Pol und Gegenpol unterschiedliche Gradierungen: einer hochgradig, der andere tiefgradig. Der hochgradige Pol ist typisch für das Arzneimittel, der tiefgradige nur wenig relevant.
Zeigt ein Patient das Symptom Durst, ist es wichtig, dass das infrage kommende Arzneimittel dieses Symptom in einem möglichst hohen Grad abdeckt (Grad 3 bis 5), um ihn zu heilen. Gleichzeitig sollte der Gegenpol Durstlosigkeit in einem tiefen Grad stehen (Grad 1 oder 2). Wäre Durstlosigkeit im dritten Grad vorhanden, Durst aber im ersten, so entspräche das Arzneimittel in seinem Genius dem Gegenteil der Patientensymptomatik, obschon es alle seine Symptome abdeckt, und es würde den Patienten nach unserer Erfahrung kaum heilen. Bönninghausen sprach bei einer solchen Konstellation von einer Kontraindikation. Wenn wir im Nachhinein Fälle analysieren, die nicht geheilt wurden, obwohl das verabreichte Mittel alle Symptome abdeckte, so finden wir fast immer übersehene Kontraindikationen als Ursache des Misserfolgs. Bei der Mittelwahl ist also ganz besonders darauf zu achten, dass die Modalitäten des Patienten mit den charakteristischen Modalitäten des Arzneimittels übereinstimmen.
Je kleiner das Repertorium, desto besser die Ergebnisse
Sie verwenden für Ihre Repertorisationen „Bönninghausens Therapeutisches Taschenbuch“, das nur 125 Arzneimittel enthält, und sind erfolgreich damit! Wie ist dies zu erklären?
Wir haben im Laufe der Zeit verschiedene Repertorien gebraucht, unter anderem „Kent’s Repertorium Generale“ mit 683 Arzneimitteln, den „Synoptic Key“ von Boger mit 323 Arzneimitteln, „Bönninghausens Therapeutisches Taschenbuch 1897“ mit 361 Arzneien und schließlich das kleinste und älteste aller Repertorien, „Bönninghausens Therapeutisches Taschenbuch 1846“ mit 125 Mitteln. Und dieses ergibt die besten Ergebnisse. Warum? Jedes Arzneimittel, das in einem Repertorium aufgeführt ist, ist eine Variable. Wenn Sie 683 Variablen haben, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass Sie das richtige Mittel herauspicken, mathematisch kleiner als bei 125. Mit anderen Worten: Je mehr Arzneimittel zur Auswahl stehen, umso geringer die Chance, dass man auf Anhieb das richtige Mittel findet. Natürlich gibt es Arzneimittel, die im „Taschenbuch“ fehlen. Aber ich hoffe, diesen Mangel mit etwas Materia-Medica-Kenntnissen zu kompensieren. Tatsächlich brauchen wir nur selten ein Mittel, das nicht im „Taschenbuch“ aufgeführt ist. Offenbar hatten die alten Meister bereits die wichtigsten Arzneien zur Verfügung und erzielten damit ihre Heilungen.
Gemütssymptome als Bestätigung
Bei einem Syndrom wie dem ADHS gibt es wahrscheinlich auch häufig seelische Ursachen. Wie fließt diese Komponente in Ihre Anamnese ein?
Gemütssymptome sind sehr heikel. Wenn wir sie als Bestätigung für eine Arznei verwenden, nachdem wir die Mittel bereits eingegrenzt haben, ist das die optimale Nutzung.
Das Seelische fließt ein, aber nicht über die Mittelfindung, sondern über das Arzneimittel. Es kann sein, dass bei einem hyperaktiven Kind aufgrund der Wahrnehmungssymptome Arnica angezeigt ist. Arnica ist ein Hinweis auf eine traumatische Ursache des Leidens, eine traumatische Schwangerschaft oder eine traumatische Geburt. Oder es kann sein, dass Ignatia herauskommt: Das Kind hat Kummer, zum Beispiel wegen der bevorstehenden Trennung der Eltern. Kinder, bei denen Sepia angezeigt ist, sind oft resigniert, weil sie trotz ihres guten Willens nichts erreichen und immer wieder anstoßen. Wir erhalten also aufgrund des Mittels Hinweise darauf, was die Ursache des Leidens sein könnte. Die eigentliche Mittelwahl resultiert aber aus den Wahrnehmungssymptomen und nicht aus dem Erkunden psychischer Zusammenhänge. Diese dienen nur als Bestätigung, die schließlich den Ausschlag geben kann für die endgültige Mittelwahl. Hahnemanns Rat, bei der Behandlung von psychischen Krankheiten besonders auf die vorausgehenden oder nebenbei bestehenden Körpersymptome zu achten und sie zur Mittelbestimmung heranzuziehen („Organon“ §§ 216 und 218), trifft nach unserer Erfahrung auch für ADHS-Patienten zu.
In meiner Praxis kann ich immer wieder beobachten, dass Arzneimittel, die aufgrund von polaren Körpersymptomen bestimmt wurden, auch die Gemütssymptome perfekt abdecken, ohne dass diese in die Mittelbestimmung eingeflossen sind. Es scheint, dass die polaren Symptome die Verstimmung der Lebenskraft besonders genau wiedergeben und deshalb so gute Wegweiser zum homöopathischen Mittel sind. Sie führen denn auch oft zu tief greifenden Heilungen.
Textquelle: „Die Pioniere der Homöopathie im 21. Jahrhundert“ von Heidi Brand & Anne Devillard
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