Die Placebo-Forschung entwickelt sich in den letzten Jahren zu einem der interessantesten Bereiche der Medizin und Psychologie, mit dynamischen Fortschritten. Während der Begriff Placebo-Effekt auch heute noch als Synonym für „Wirkungslosigkeit“ oder „nur eingebildeter Nutzen“ aufgefasst wird, zeigen jüngere Erkenntnisse, dass die Sache ganz anders liegt: Der Placebo-Effekt löst „echte“ physiologische Prozesse im Körper aus, die eine Heilung des Patienten bewirken kann. – Nachhaltig.
„Es gibt den Placebo-Effekt, das muss man in aller Deutlichkeit sagen, bei jeder medizinischen Behandlung“, erklärt Professor Robert Jütte, Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer und Leiter des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung. Der Beirat der Ärztekammer erarbeitet Stellungnahmen und Empfehlungen zu verschiedenen Themen unter Berücksichtigung von ethischen Aspekten. Jütte ist dort Federführender des Arbeitskreises „Placebo in der Medizin“.
Zu den Placebos gehören nicht nur Scheinmedikamente, sondern ebenso Scheininjektionen, Scheinoperationen oder Scheinakupunktur – selbst in der Psychotherapie gibt es Formen der Scheinbehandlung, die den Placebo-Effekt nutzen.
Was können Placebos?
Die Wirksamkeit von Placebos ist bei Schmerzen am besten durch Studien dokumentiert. „Placebos können eine Schmerzlinderung von 80 Prozent erzielen“, berichtet Jütte, „sie helfen auch bei Magenschmerzen oder Bluthochdruck – es gibt da eine große Bandbreite an Anwendungsmöglichkeiten.“ Zum Teil können die Wirkungen von Placebos mithilfe von Laborwerten objektiv gemessen und nachgewiesen werden.
Schlagzeilen machte eine Studie des amerikanischen Chirurgen Bruce Moseley über Scheinoperationen bei Knie-Arthrose. Moseley wollte wissen, ob nicht ein Teil des Behandlungserfolgs von Arthroskopien auf dem Placeboeffekt beruht. Die Hälfte seiner Patienten bekam daher nur einen Schnitt ins Knie und eine dicke Naht, jedoch keine Arthroskopie. Die Schein-Operierten konnten den Eingriff auf einem Monitor verfolgen und sahen eine echte Operation, die gar nicht ihre eigene war. Das Ergebnis: Die Patienten mit Scheinoperation waren nach der Heilungsphase genauso zufrieden, wie die Gruppe mit echten Operationen – auch in der Langzeitbeobachtung.
Scheinbehandlungen können in einigen Fällen sogar bessere Ergebnisse erzielen als die konventionelle Behandlung. So ist die Scheinakupunktur bei Rückenschmerzen konventionellen Tabletten oder Spritzen weit überlegen. Das belegen die GERAC-Studien (German Acupuncture Trials), die bisher umfangreichsten klinischen Untersuchungen zu tiefen Rückenschmerzen. Das Ergebnis: Bei 47,6 Prozent der Akupunktur-Patienten, 44,2 Prozent der Scheinakupunktur- Patienten und nur bei 27,4 Prozent der konventionell behandelten Patienten trat eine erkennbare Verbesserung ein.
Placebowirkung bei konventionellen Medikamenten
Wenn ein Patient ein konventionelles Arzneimittel einnimmt, setzt sich die Wirkung aus dem „Verumeffekt“ des jeweiligen Wirkstoffs und der „Placeboreaktion“ des Patienten zusammen. Immer. Die Bedeutung der Placeboreaktion wird von Medizinern bis heute unterschätzt. Laut Jütte belegen Studien, dass der Anteil einer Placebowirkung bei einem konventionellen Medikament bei null bis 100 Prozent liegen kann. Kurios dabei: „Es kommt auch auf den kulturellen Kontext an. – Das ist beim gleichen Medikament in Brasilien anders als in Deutschland“, so Jütte.
Placebo-Effekte bei konventionellen Medikamenten können Nebenwirkungen haben. „Ich kann die Nebenwirkungen einer richtigen Arznei verstärken. Das ist praktisch das Gegenteil vom Placebo- Effekt, der etwas Positives bewirkt. Man nennt das den Nocebo-Effekt“, erläutert Jütte, „dieser negative Placebo- Effekt führt dazu, dass unerwünschte Wirkungen verstärkt werden, oder die Wirksamkeit eines Wirkstoffs stark abgesenkt werden kann.“ Studiert ein Patient aufmerksam den Beipackzettel mit Nebenwirkungen, so hat er eine höhere Wahrscheinlichkeit, dass bei ihm Beschwerden auftreten.
Werbung verstärkt die Wirkung eines Medikaments durch eine höhere Placeboreaktion der Patienten. Zwar gibt es erst wenige Studien zum Thema, doch diese belegen einen Zusammenhang zwischen Werbung und Wirkung. Jütte: „Die Vorstellung des Patienten, dass ein Medikament wirke, hat einen Einfluss auf die Wirksamkeit. Da spielt auch die Werbung eine Rolle. Genau wie die Größe oder Farbe eines Placebos seine Wirksamkeit verstärken können.“ Selbst die Nachbarin unterstützt einen Placebo-Effekt, wenn sie eine Tablette empfiehlt.
Darf man Patienten mit Placebos täuschen?
„Die Bundesärztekammer hat entsprechende Empfehlungen vorgestellt, die genau sagen, dass der Patient aufgeklärt werden muss. Aber die Frage ist, wie tief er aufgeklärt werden muss. Und wenn ich einem Patienten sage, wir haben da eine Therapie, die unspezifisch wirkt. Und wir wissen noch nicht warum. – Dann will ich den Patienten sehen, der Nein sagt“, erklärt Jütte die ethischen Standards.
Darüber hinaus zeichnet sich in der Placebo- Forschung ab, dass die Täuschung des Patienten kein zwingender Bestandteil einer erfolgreichen Scheinbehandlung ist. „Inzwischen gibt es einige Studien dazu – aber wir haben noch zu wenig davon“, sagt Jütte. „Die vorliegenden Studien zeigen: Selbst wenn ich dem Patienten sage, dass er ein Placebo bekommt, und ihm das genau erkläre. Das Placebo wirkt trotzdem.“
Foto: I-vista / pixelio.de
Links zum Thema:
A Controlled Trial of Arthroscopic Surgery for Osteoarthritis of the Knee
Ärzteblatt: Medien mit Nocebo-Effekt