Von Cornelia Bajic
Medizinische Leitlinien gelten als wichtiges Instrument, um die Versorgungsqualität von Patienten qualitativ und ökonomisch zu verbessern. Zahlreiche Studien weisen allerdings darauf hin, dass es bei der ärztlichen Umsetzung von Leitlinien noch hapert. Lässt sich dieses Defizit durch eine aktivere Vermittlung von Leitlinienwissen beheben? Glaubt man der im Deutschen Ärzteblatt veröffentlichten explorativen Studie „Ärztliches Leitlinienwissen und die Leitliniennähe hausärztlicher Therapien“, so hängt die korrekte Umsetzung von medizinischen Leitlinien möglicherweise nicht vom Wissen über entsprechende Handlungs- und Entscheidungsempfehlungen ab. Ute Karbach, Ingrid Schubert, Jens Hagemeister, Nicole Ernstmann, Holger Pfaff und Hans-Wilhelm Höpp untersuchten die Umsetzung kardiovaskulärer Leitlinien in der hausärztlichen Praxis – mit interessanten Ergebnissen: Nur 40 Prozent der 437 an der Studie teilnehmenden Ärzte verfügten „definitionsgemäß über eine adäquate Leitlinienkenntnis“. Trotzdem setzten Ärzte mit und ohne Leitlinienwissen die Empfehlungen in 12 von 16 Indikatoren nahezu gleich um. Vier Indikatoren wurden von Ärzten ohne „adäquate Leitlinienkenntnis“ sogar zu einem höheren Anteil erfüllt. Führen demnach viele Wege nach Rom – neben Leitlinienwissen auch ärztliche Qualifikation, Erfahrung und Intuition?
Ärztliche Leitlinien sind systematisierte Entscheidungs- und Handlungsoptionen
Ein wichtiges Ziel medizinischer Leitlinien ist es, dem einzelnen Arzt eine wissenschaftlich fundierte und praxisorientierte Handlungsempfehlung an die Hand zu geben. Gut gemachte Leitlinien erläutern den jeweiligen fachlichen Entwicklungsstand und bieten Ärztinnen und Ärzten systematisch erarbeitete Entscheidungs- und Handlungsoptionen an. Ob diese dann im Einzelfall auch umgesetzt werden, das liegt im ärztlichen Ermessensspielraum, der im Idealfall auch die Wünsche des Patienten berücksichtigt. Ob Leitlinien tatsächlich das halten, was sie versprechen, das ist Gegenstand kontroverser Diskussionen. Wichtige Kritikpunkte hat Wikipedia an folgender Stelle aufgelistet. Eine zentrale Herausforderung ärztlicher Leitlinien besteht in der Frage, wie gut sie dabei helfen, externe und interne Evidenz auszubalancieren. Denn mit der externen Evidenz ist das so eine Sache. Von Prof. Dr. Harald Walach stammt der wich^^tige Hinweis:
„Was der Mehrheit der Patienten nützt, kann sehr wenigen äußerst gefährlich werden oder für eine große Minderheit unbrauchbar sein.“
Dr. Harald Matthes, leitender Arzt (Gastroenterologie, Onkologie) am Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe, schilderte das Problem einer nicht ausreichenden Berücksichtigung interner Evidenz innerhalb der Evidenzbasierten Medizin (EbM) wie folgend:
„Im Idealfall sollte die EbM die externe Evidenz, also objektiv messbare Werte, und die interne Evidenz, also die individuelle Bewertung dieser Ergebnisse, gleichberechtigt abbilden. Allerdings kann von „Gleichberechtigung“ zur Zeit keine Rede sein. Die externe Evidenz wird extrem hoch bewertet, die interne Evidenz hingegen gilt als relativ unwichtig. Dafür gibt es eine recht einfache Erklärung: Die Sehnsucht des Menschen nach objektiv „richtigem“ Wissen ist sehr alt. Unsere gesamte abendländische Wissenschaftsgeschichte ist von der Vorstellung geprägt, dass der Mensch die Wirklichkeit immer nur subjektiv und damit eingeschränkt wahrnehmen könne. Daher der Wunsch nach einer externen Evidenz, bei der die Dinge objektiv gemessen werden. Gerade für Mediziner war es lange Zeit Tabu, zu sagen, dass man gute praktische Erfahrungen mit einem Verfahren gemacht habe, dass man eine bestimmte Therapie aus individuellen Gründen als sinnvoll einschätze – oder sogar den Patienten zu fragen! Alles, was als „interne Evidenz“ gilt, war verpönt.
Dabei kann es eine externe Evidenz ohne eine interne Dimension gar nicht geben. Denn auch hinter messbaren Ergebnissen steht immer ein Mensch, der die Daten interpretiert, der zu einer Schlussfolgerung kommt und damit eine interne Perspektive mit ins Spiel bringt. Heute haben wir große Studien, die auf externer Evidenz basieren und die eine hohe statistische Aussage haben. Und gleichzeitig haben wir andere große Studien, die trotz desselben Designs und trotz desselben Messparameters zu anderen Ergebnissen kamen. Um diesen Widerspruch zu verstehen, fließt sehr viele interne Evidenz wieder in die Forschung ein, da die Ergebnisse ja bewertet werden müssen.“
(DAMiD-Interview: „Wirksamkeitsnachweis und Komplementärmedizin“)
Meine Meinung: Da es sich bei Ärztlichen Leitlinien nicht um verbindliche Richtlinien und stattdessen um Entscheidungs- und Handlungsoptionen handelt, können sie in jedem Fall wertvolle Hilfestellung und Denkanstöße vermitteln.
AWMF-Leitlinie Fibromyalgie
Für homöopathisch arbeitende Ärzte interessant ist z. B. die die offizielle AWMF-Leitlinie zur Behandlung von Fibromyalgie. NATUR UND MEDIZIN schrieb dazu am 29.04.2009:
„In der Homöopathieforschung sind bisher nur wenige Krankheiten mehrmals Gegenstand vergleichender Therapiestudien gewesen, und wenn dann oft mit wechselndem Erfolg oder gar widersprechenden Ergebnissen. Doch Ausnahmen bestätigen die Regel.
Eine dieser Ausnahmen ist die Fibromyalgie. Hier hat sich die Homöopathie bereits dreimal in sehr unterschiedlichen Studien einem Placebo (also einem Scheinmedikament) gegenüber überlegen gezeigt. In der neuesten Studie haben englische Forscher eine zusätzliche homöopathische Einzelmittelbehandlung mit einer ausschließlichen konventionellen Routineversorgung verglichen. 47 Patienten wurden eingeschlossen und behandelt. 22 Wochen nach Therapiebeginn hatten die Schmerzen, der Behinderungsgrad und die Erschöpfungs-Symptomatik in der Homöopathiegruppe signifikant stärker abgenommen als in der Kontrollgruppe.
Die Autoren fordern nun eine weitere Studie um die Ergebnisse zu bestätigen. Neben der Effektivität der homöopathischen Behandlung solle darin dann auch das Kosten/Nutzen-Verhältnis untersucht werden.“
Das Ergebnis der späteren systematischen Überprüfung war positiv, so dass die Homöopathie in die offizielle Leitlinie zur Behandlung von Fibromyalgie aufgenommen wurde.
Herausforderung: Die Umsetzung medizinischer Leitlinien in ärztliches Handeln ist ein komplexer Prozess.
Das Ziel einer leitlinienkonformen Krankenversorgung wurde bisher nicht erreicht. Darauf weisen verschiedene nationale und internationale Studien hin, die von den Autoren der Studie „Ärztliches Leitlinienwissen und die Leitliniennähe hausärztlicher Therapien“ zitiert werden (1, 2, 3). Woran kann das liegen? Fehlt es an ärztlichem Leitlinienwissen? In der wissenschaftlichen Publikation heißt es dazu: „Inwiefern … die Kenntnis aktueller Empfehlungen zur Diagnostik und Therapie einen Einfluss auf das ärztliche Handeln hat, ist bisher wenig erforscht.“ Für Ute Karbach, Ingrid Schubert, Jens Hagemeister, Nicole Ernstmann, Holger Pfaff und Hans-Wilhelm Höpp war dies Grund genug, um am Beispiel der hausärztlichen Versorgung bei drei Zielerkrankungen – arterielle Hypertonie, Herzinsuffizienz, chronische Koronare Herzkrankheit (KHK) – einmal der Frage nachzugehen, ob es einen Zusammenhang zwischen ärztlichem Leitlinienwissen und leitliniennahem Handeln gibt.
Im Februar 2007 befragten sie 2.500 repräsentativ ausgewählte Ärzte der der KV Nordrhein und der KV Sachsen postalisch mithilfe eines Fragebogens zur Behandlung kardiovaskulärer Erkrankungen. 1.152 Ärzte sendeten einen auswertbaren Fragebogen zurück. Auf diese Weise wurde zunächst das Leitlinienwissen erfasst. Die anspruchsvollere Ermittlung der Leitlinienumsetzung erfolgte explorativ. Zu diesem Zweck wurden die Patientendaten von 15 Antwortern mit nicht adäquatem Leitlinienwissen mit dem Patientendaten von 15 Antwortern mit adäquatem Leitlinienwissen ausgewertet. Die Ergebnisse der Studie haben in Fachkreisen für große Aufmerksamkeit gesorgt und werden von den Autoren selbst als „richtungsweisend“ eingestuft.
Wichtige Kernaussagen der Studie fasst die folgende – aus der Publikation übernommene – Grafik zusammen:
Offene Fragen
Damit zeigte sich bei dieser wissenschaftlichen Untersuchung, was übrigens auch für die Grundlagenforschung und Klinische Forschung zur Homöopathie typisch ist: Je komplexer ein Untersuchungsgegenstand ist, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass Forschungsergebnisse nicht finaler Natur sind und stattdessen zu vielen neuen Fragen führen, die es mühsam und geduldig zu erforschen gilt. Übertragen auf die im Deutschen Ärzteblatt veröffentlichte Studie „Ärztliches Leitlinienwissen und die Leitliniennähe hausärztlicher Therapien“ heißt dies: Wenn Wissen allein möglicherweise wenig Einfluss auf die Umsetzung ärztlicher Leitlinien hat, von welchen Faktoren hängt eine adäquate Leitlinienumsetzung dann ab?
Wir sind gespannt auf die Ergebnisse weiterer Untersuchungen.
Beitragsbild: ©Pexels