Am 6. April fanden in Berlin die 6. Komplementärmedizinischen Gespräche statt und endeten mit einer echten Überraschung. Die von DAMiD und der Hufelandgesellschaft durchgeführte wissenschaftliche Fachtagung gilt inzwischen als wichtigster Ort der Begegnung zwischen Politik und Experten aus dem Bereich der Komplementärmedizin. Im politischen Bewusstsein zu Forschungsfragen spielen die (in Fachkreisen auch mit dem Kürzel „CAM“ bzw. Complementary and Alternative Medicine umschriebenen) Therapieverfahren bisher allerdings keine Rolle. Nur BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN setzte sich 2008 in einem Fachgespräch professionell mit CAM-Forschung auseinander. Alle anderen Parteien zeichnen sich hingegen primär durch Unkenntnis, Desinteresse und Sonntagsreden vor Wahlen aus, so zumindest der persönliche Eindruck. Beobachter werten es daher als Überraschung, dass René Röspel (SPD), Dr. Peter Röhlinger (FDP), Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) ihre Ankündigung während des Berliner Symposiums wahr machten und das Thema „CAM“ schon am 7. April – d.h. nur einen Tag später – erstmalig in die Bundestags-Diskussion (1, 2) zum „Rahmenprogramm Gesundheitsforschung der Bundesregierung“ einbrachten.
Hohe Akzeptanz in der Bevölkerung
Rund 55 Mio. Bundesbürger bzw. zwei Drittel der deutschen Bevölkerung vertrauen Naturheilverfahren und anderen Verfahren der sogenannten Komplementärmedizin. Ca. 60.000 Ärztinnen und Ärzte haben eine Weiter- oder Ausbildung in Naturheilverfahren, Homöopathie, Akupunktur oder Chirotherapie absolviert. „Deutschland hat eine stark ausgeprägte komplementärmedizinische Tradition. Hier wurden die Homöopathie und die anthroposophische Medizin entwickelt, und viele der bekanntesten Protagonisten der Naturheilverfahren hatten hier ihre Heimat“, schreibt der DZVhÄ in seinem April-Newsletter. In der Grundlagen- und in der anwendungsbezogenen Forschung rund um die Komplementärmedizin droht Deutschland hingegen zum internationalen Schlusslicht zu werden.
CAM-Forschung: Deutschland schwach, USA investieren jährlich 300 Mio. Dollar
An deutschen Universitäten gibt es rund 2.800 Professuren in der Medizin. Mit Komplementärmedizin im weitesten Sinne beschäftigen sich davon jedoch nur acht Stiftungsprofessuren. CAM-Verfahren können auf Wunsch des Dekanats einer medizinischen Fakultät als Wahlpflichtfach aufgenommen und von Studierenden belegt werden. Sie sind jedoch kein fester Bestandteil eines Medizinstudiums. Ganz anders in den USA. Hier sind Ausbildung und Forschung rund um unkonventionelle Verfahren von staatlicher Seite her fest etabliert. Die Karl und Veronica Carstens-Stiftung schreibt über komplementärmedizinische Forschung in den Vereinigten Staaten:
„An 82 von insgesamt 125 medizinischen Hochschulen ist CAM als Pflichtteil des Lehrplans festgesetzt. Außerdem wurde das National Center of Complementary and Alternative Medicine (NCCAM) als Abteilung des NIH (National Institute of Health) eingerichtet. Mittlerweile werden hier jährlich mehr als 120 Millionen Dollar in Forschungsförderprogramme investiert – Tendenz steigend! (Anm. d. Red.: Prof. Dr. Peter Heusser (Universität Witten/Herdecke) spricht mit Bezug auf aktuelle Zahlen von 300 Millionen Dollar) Die Gründe sind unter anderem: In den USA stehen Nebenwirkungen von konventionellen Behandlungen auf Platz 11 aller Todesursachen. Die „Amerikanische Behörde für Technikbewertung“ stellte fest, dass maximal 20 Prozent der Produkte der Pharmaindustrie in ihrer Wirkung wissenschaftlich abgesichert sind. Abgesehen davon wurde 1992 klar, dass die Bevölkerung mehr Geld für komplementärmedizinische Behandlungen ausgibt als für konventionelle.“
Die Carstens-Stiftung weist darauf hin, dass auch die World Health Organization (WHO) den Stellenwert von Komplementärmedizin und traditionellen Medizinsystemen hervorgehoben hat (3) und CAM kürzlich erst ins 7. EU-Forschungsprogramm (4) integriert wurde.
Hinter dem großen CAM-Engagement der USA steht nicht der naive Wunsch nach „sanfter Blümchen-Medizin“ sondern eher Pragmatismus und ein großes Interesse am greifbaren Nutzen komplementärmedizinischer Therapieverfahren. CAM verfügt speziell in zwei Bereichen über ein großes noch weitgehend unerforschtes Potenzial: Etwa 40 Prozent aller Bundesbürger leiden unter chronischen Krankheiten, ohne dass ihnen die moderne Medizin kurative (heilende) Therapiemöglichkeiten anbietet. CAM-Verfahren haben, das zeigen erste hochwertige Studien der Versorgungsforschung, ein erhebliches Potenzial zur Steigerung der Lebensqualität gerade bei chronisch Kranken (5, 6). CAM-Therapien dienen darüber hinaus dem Verbraucherschutz, da chronisch Kranke eine Alternative zu langjähriger Medikamentenabhängigkeit, Nebenwirkungen und langfristig hohen Arzneimittelkosten erhalten.
Forscher und MdB-Politiker diskutieren CAM-Forschungsförderung
Naturheilverfahren und anderen Verfahren der Komplementärmedizin spielen in der Gesundheitsversorgung der deutschen Bevölkerung eine große Rolle, haben jedoch keine öffentlichen und politischen Strukturen zur Förderung der Grundlagen- und der anwendungsbezogenen Forschung. Um diese Diskrepanz zu diskutieren, trafen sich am 6. April Forscher aus dem CAM-Bereich mit Gesundheitspolitikern aus dem Deutschen Bundestag. Vier Fachvorträge stellten die Sichtweise der Wissenschaft dar und beschäftigten sich mit folgenden Fragen: Wie will Deutschland seiner Verantwortung gegenüber Patienten mittels einer fundierten Wissenschaft gerecht werden? Wie soll der akademische Nachwuchs ausgebildet werden? Verliert Deutschland seine Bedeutung als Forschungsstandort an andere Länder wie die USA oder China?
Traditionelle Heilmethoden –
Bedingungen moderner klinischer Forschung
Prof. Dr. med. Benno Brinkhaus
CHAMP (Charité Ambulanz für Prävention und
Integrative Medizin), Stiftungslehrstuhl für
Naturheilkunde, Berlin
Komplementärmedizin im hausärztlichen Setting –
Ansätze für die Forschung
PD Dr. med. Stefanie Joos
Abteilung Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung
Universitätsklinik Heidelberg
Versorgungsforschung im Netzwerk Onkologie – ein
Setting zur Evaluierung integrativer Therapieansätze
Dr. med. Friedemann Schad
Onkologisches Zentrum Havelhöhe, Netzwerk
Onkologie
Forschungsförderung Komplementärmedizin und der
Standort Deutschland
Prof. Dr. med. Peter Heusser
Lehrstuhl für Medizintheorie, Integrative und
Anthroposophische Medizin an der Universität
Witten/Herdecke
In einer Podiumsdiskussion beleuchteten Abgeordnete des Deutschen Bundestags anschließend die Frage: Ist Forschungsförderung in der Komplementärmedizin überflüssig oder längst überfällig? An der Diskussion beteiligten sich (Reihenfolge nach Alphabet):
Birgitt Bender
Juristin
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Ausschuss für Gesundheit
Dr. Peter Röhlinger
Veterinärmediziner i. R.
FDP
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
René Röspel
Diplombiologe
SPD
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Dr. Petra Sitte
Diplom-Volkswirtin
DIE LINKE
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Politik ungewohnt offen
Ein offenes Ohr auf Seiten der Bundestags-Politiker hatten sich die Veranstalter erhofft, ernsthaft gerechnet hat damit sehr wahrscheinlich jedoch niemand. Umso erstaunter war man anschließend über die ungewohnte Offenheit für die Perspektive der Komplementärmedizin. Die Hufelandgesellschaft fasst die Ergebnisse der Podiumsdiskussion in einer Pressemeldung (9) zusammen:
„Unter der Moderation von Marion Caspers-Merk, Staatssekretärin a.D. und Präsidentin des Kneipp-Bundes, stellten sich die Forschungspolitiker der Diskussion. Schnell wurde deutlich, dass die Komplementärmedizin im politischen Bewusstsein zu Forschungsfragen bisher wenig verankert ist. Das änderte sich allerdings im Verlauf der Diskussion:
Über die Parteigrenzen hinweg zeigten sich die Politikerinnen und Politiker sehr interessiert. Von Dr. Peter Röhlinger (FDP) gab es das konkrete Angebot, im Bundesministerium für Bildung und Forschung sowie im Forschungsausschuss des Bundestages Gespräche über Forschungsförderungen zu führen …
… Intensiv wurde außerdem die Möglichkeit diskutiert, die Komplementärmedizin in den neuen Bereich Versorgungsforschung zu integrieren. Der forschungspolitische Sprecher der SPD, René Röspel, sprach sich gegen eine spezielle Förderung für die Komplementärmedizin aus und warb für eine indikationsbezogene Forschungsförderung. Dem widersprach Biggi Bender, gesundheitspolitische Sprecherin von Bündnis 90/Die Grünen, die die Komplementärmedizin gezielt fördern möchte: „Wenn’s nach uns ginge, würden wir ein spezifisches Forschungsprogramm haben“. Pragmatisch zeigte sich Petra Sitte, forschungspolitische Sprecherin der Linken: „Auch in der Politik wird nachfrageorientiert gearbeitet. Das gilt auch für die Förderung zur Erforschung der Komplementärmedizin.““
Kommentar des DZVhÄ
Christoph Trapp, Pressesprecher des DZVhÄ, kommentierte die Ereignisse in den Homöopathischen Nachrichten (April 2011) mit folgenden Worten:
„Liebe Leserinnen und Leser, die Komplementärmedizinischen Gespräche haben es geschafft, Politiker über Fraktionsgrenzen hinaus zu einigen. Mal sehen, wie lange diese neue Koalition hält. Während der Podiumsdiskussion wurde schon bei den Eingangsstatements der Mitglieder des Bundestags-Forschungsausschusses deutlich, dass die Komplementärmedizin in diesem Gremium bislang keine Rolle spielte. Einzig Biggi Bender (Bündnis 90/Die Grünen) konnte Essentielles sagen, aber sie sitzt ja auch im Gesundheitsausschuss und ist für ihren Einsatz für die besonderen Therapierichtungen bekannt. Die Politiker der anderen drei Bundestagsfraktionen – die CDU war nicht vertreten – erkannten schnell den Handlungsbedarf. So wurde versprochen, das Thema in die Beratungen des neuen Gesundheitsforschungsprogramms mit einzubringen, das ist geschehen. So wurde ein Gespräch zwischen Forschungsministerium und Wissenschaft vorgeschlagen, das steht noch aus, und es wurde aufgefordert, Forschungsanträge zu stellen, auch wenn diese, wie gewohnt, von den Gutachtern abgelehnt würden. Nun heißt es, dran zu bleiben, damit diese Koalition lange hält. Es grüßt Sie herzlich Christoph Trapp, Pressesprecher“
Links zum Thema:
Echo zum Berliner Symposium und zum Rahmenprogramm Gesundheitsforschung:
Hufelandgesellschaft: Politik ungewohnt offen für Perspektive der Komplementärmedizin
Deutsches Ärzteblatt: Gesundheitsforschung: Rahmenprogramm in der Kritik
Homöopathie, SPD, CDU und das Sommerloch 2010
DER SPIEGEL: Homöopathie in der Kritik, Tausendmal gerührt: „Man sollte den Kassen schlicht verbieten, die Homöopathie zu bezahlen“, sagte Karl Lauterbach, SPD-Obmann im Gesundheitsausschuss des Bundestags, dem SPIEGEL. Die CDU hätte diesen Vorstoß zurückweisen können, was sich angesichts der Beliebtheit der Homöopathie angeboten hätte – doch CDU-Gesundheitsexperte Jens Spahn tat das Gegenteil. Seine Fraktion sei offen dafür, den gesetzlichen Kassen das Bezahlen homöopathischer Therapien zu verbieten, sagte er der Berliner Zeitung.“
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